Nachtragend sein
- Zielgerichtet

- 12. Sept. 2021
- 2 Min. Lesezeit
Der Posteingang blinkt auf. Schon beim Lesen der ersten Zeilen kochen meine Emotionen hoch. Verdrehte Tatsachen, Schuldzuweisungen und Beleidigungen gegen meine Person und das alles völlig unberechtigt. Blitzschnell ist der Selbstverteidigungsmodus aktiviert. Das Gehirn rattert, auf der Suche nach den treffendsten Worten, nach der perfekten Formulierung. Der Konter wird sitzen. Das ist meine Gelegenheit, den Spieß umzudrehen. Die Finger können gar nicht schnell genug tippen. Doch plötzlich stoppe ich. Sollte ich wirklich Böses mit Bösem vergelten? Noch weiter Öl ins Feuer gießen? Sollte ich einen tiefen Graben legen oder doch lieber eine Brücke bauen?
Während ich mich schmollend in meine Couch zurückfallen lasse, muss ich daran denken wie Jesus blutüberströmt am Kreuz hängt. Verspottet, ausgelacht, beleidigt, geschlagen und auf übelste Weise gequält. So hängt er da, mit unvorstellbaren Schmerzen in den schwersten Stunden seines Lebens. Die größte Ungerechtigkeit der Weltgeschichte verspürt er gerade in diesem Moment. Er hat die Macht dieser Situation zu entgehen, doch er verzichtet darauf. Den ohnehin schon sehr tiefen Graben zwischen ihm und seinen Folterern kann er noch weiter vergrößern, seine Gedanken sind jedoch ganz andere. Deutlicher denn je kommt nun sein Inneres zum Vorschein: bedingungslose Liebe. Niemand kann größere Liebe haben, als sein Leben für seine Freunde zu geben. Ja, er gibt es auch für seine Feinde. Vergebend reicht Jesus ihnen die Hand. Diejenigen, die ihn töten, sind nun sein größtes Gebetsanliegen geworden.
Wie eindrucksvoll schaffte er es, eine Brücke zu seinen Nächsten zu bauen. Und es sollte nicht nur eine Brücke für dieses Leben werden, sondern eine Brücke, die ins ewige Leben führt, zur unendlichen Freude mit Gott.
Ich nehme einen ordentlichen Schluck Wasser und lese noch einmal die E-Mail durch. Kann ich meine Leiden mit den Leiden Jesu vergleichen? Nein, ganz sicher nicht. Kann ich mich selbst mit Gottes Sohn vergleichen? Nein, auch nicht. Dennoch habe ich den Anspruch als Christ, ihm möglichst ähnlich zu sein. Beschämt schaue ich in meinen Bildschirm und lösche den Text, den ich so vorschnell schreiben wollte. Stattdessen falle ich auf meine Knie, um für den Absender der E-Mail zu beten. Das ist der erste Teil meiner Antwort. Und im zweiten Teil will ich eine angemessene, liebevolle Formulierung wählen. Damit stünden auch schon die ersten Pfeiler unserer Brücke, einer Brücke, die vielleicht bis in die Ewigkeit reicht!
Mein fester Entschluss steht: Ich möchte nie mehr jemandem etwas nachtragen. Diese Lektion habe ich fürs Leben gelernt, denke ich. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto klarer erkenne ich, dass ich doch „nachtragend“ sein muss. Ich will mein Kreuz Jesus nachtragen! Aber das soll auch das Einzige sein!

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